One nation under what?

Lange hat dieser Blog geschlafen; mehrmals wollte ich ihn schon offline stellen, doch heute habe ich das Bedürfnis, zu schreiben. Ich reihe mich also ein in die endlose Liste von mehr oder weniger persönlichen Kommentaren zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA. So sinnlos es auch erscheinen mag, schreiben kann ja auch therapeutischer Selbstzweck sein.

Viele wissen, dass ich in jüngeren Jahren gerne in den USA studiert und idealerweise eine Musikkarriere aufgebaut hätte. Nur wenige wissen, dass ich in ganz jungen Jahren ein glühender Fan jenes Landes war und sogar dorthin auswandern wollte. Tatsächlich beteiligte ich mich an dämlichen greencard-lotteries und hatte ernsthaft Unterlagen und Lehrbücher zum US-citizenship-test zuhause. Es war eine Zeit, in der die wohl letzten Ausläufer des „Alles ist möglich“ und der angeblich so unbegrenzten Freiheit hier in Europa noch medial spürbar war. Ich las hauptsächlich amerikanische Bücher und andere Medien, sah amerikanische Filme; meine musikalische Ausbildung fand (weitaus prägender als die späteren Musikstudien) via VHS und DVD, etwas später übers Internet statt – alles aus Amerika. Meine musikalischen Vorbilder lebten und agierten dort; die Bühnen, die ich zu erobern gedachte; die Städte und die Landschaften nach denen ich mich sehnte (dieser letzte Punkt hat sich seither am wenigsten geändert), das war alles „drüben“. Auf meinen wenigen Reisen hatte ich mich in den USA wohl- und „richtig“ gefühlt. Ich wollte dorthin.

Es mangelte an Geld, letztlich auch an Mut, das Leben hatte anderes für mich geplant – es sollte nicht sein. Seither ist die Begeisterung weitgehend verflogen. Das Gras ist jenseits des Atlantik natürlich um keinen Deut grüner ist (es sei denn es wird mit grüner Farbe nachgeholfen). Auch die dortige Musikszene lockt mich nicht mehr; sie ist sehr viel größer, aber siecht genauso dahin wie überall anders. Jugendliche Rock and Roll-Träume von endlosen Weiten und offenen Highways, wo hinter jeder Kurve der potentielle major-deal plus Welttournee, zumindest aber eine umwerfend offen-/herzige Annie, Grace, Samantha auf ein Abenteuer mit dem guitar slinging stranger from abroad wartet, sind längst ausgeträumt. Die Amerikaner sind ein komplexes Volk mit einem großen Rassismusthema und einem Schusswaffenfetisch.

Dennoch: ein gewisses Verbundenheitsgefühl war da. Da drüben leben, flankiert von einem Haufen schwerbewaffneter Verrückter, ein paar hundert Millionen Menschen mit einer zur unseren halbwegs kompatiblen Kultur. Ich kenne nicht sehr viele Amerikaner, aber diejenigen die ich näher kennenlernen durfte, waren vernünftige Leute mit Herz und Hausverstand.

Heute aber fühle ich mich den USA so nahe wie dem Iran oder dem Sultanat Erdoganistan. Wir werden in den kommenden Tagen auf tausenden Seiten von Protestwählern lesen, von Verzweifelten, von Alleingelassenen, von der bedrückenden Allmacht der Konzerne, von einer Wahl zwischen Pest und Cholera, von den Verstrickungen der Clintons, etc. Vieles richtig, alles relevant und wer mich kennt weiß, wie meine Meinung zur Herrschaft der Großunternehmen aussieht. Wen haben Herr und Frau Amerika aber nun statt der favorisierten Kandidatin gewählt, wem ihre Rettung aus offenbar großer Not anvertraut?

Der nächste Präsident der vereinigten Staaten von Amerika steht für all das, wogegen seine Wähler angeblich protestiert haben sollen. Er ist Corporate America in Reinkultur, steht für kurzfristiges Wachstum um jeden Preis und ohne jede längerfristige Perspektive, für das Ausbeuten und Entsorgen von Mensch und Umwelt in jeder nur erdenklichen Weise, für das Hintreten auf Arme, Schwache und Kranke, für Korruption, Schamlosigkeit und Niederträchtigkeit in einer gänzlich neuen Qualität.

Die USA sind ein bevölkerungsreiches Land mit einem durchwachsenen Bildungssystem. Unterschiedliche Bildungsniveaus spiegeln sich überall auf der Welt im Wahlverhalten der Menschen wieder. Das ist bis zu einem gewissen Grad normal und muss wohl akzeptiert werden. Wir sehen zur Zeit in Europa ein alarmierend schnelles Wachstum dieses Effekts. Worin liegt also das Besondere, worüber empöre ich mich wie so viele andere Menschen nach dieser Wahl in einem fremden Land auf einem anderen Kontinent?

Die Amerikaner haben ihren Hausverstand zum Teufel gejagt.

Hausverstand, auch gesunder Menschenverstand genannt, hat nichts mit schulischer Ausbildung oder sozialem Status zu tun. Er ist eine grundlegende Fertigkeit, die von Kindern in ihren ersten paar Lebensjahren teils durch Instinkt, teils durch eigene Erfahrung, teils durch elterliche Anleitung verinnerlicht wird. Ohne Hausverstand kommen wir Menschen nicht durchs Leben. Wir würden kaum unbeschadet das Erwachsenenalter erreichen, sondern verletzt, verstümmelt, eventuell getötet werden. Zumindest aber permanent belogen, betrogen, hintergangen und ausgenutzt. Schon kleine Kinder lernen, dass es ehrliche und unehrliche Leute gibt, dass manche Menschen mit Vorsicht zu genießen, und einige Zeitgenossen richtig gefährlich sind.

In Wahlkampfzeiten ist Hausverstand ganz besonders gefragt, denn Politiker lügen. Oft. Überall auf der Welt. Es ist ein fixer Bestandteil ihres Tuns. Sie versuchen es hinter einer seriösen Fassade zu verbergen und durch gekonnte Rhetorik zu entschärfen, weil sie sich der Un- und Halbwahrheiten durchaus bewusst sind. Donald Trump lügt auch, und zwar ohne Unterlass, ohne jedes Augenmaß und vor allem eines: ohne es überhaupt mitzubekommen. Er schwadroniert vor sich hin wie am Stammtisch nach acht Bier, schimpft, plaudert oder poltert wie und was ihm gerade in den Sinn kommt. Seine Tiraden müssen dabei nichteinmal das berühmte Quentchen Wahrheit enthalten – es ist vollkommen egal. Der Mann schleudert seinem Publikum die absurdesten Lügengeschichten und Hirngespinste entgegen und sie lieben ihn dafür. Sie wissen dass er ein Hochstapler ist, doch das hat keine Relevanz für sie.

Populismus ist eine Sache. Donald Trump eine andere. Er redet dem Volk nicht nach dem sprichwörtlichen Maul, er haut ihm auf selbiges. Und sie finden es ganz toll. Trump trägt seine Widerwärtigkeit und allgemeine Verhaltensoriginalität auf einem Silbertablett vor sich her. Amerika hat beschlossen, beides gut zu finden. Der archetypische Schulhofschläger wurde zum role model ernannt. Böse ist gut, gut ist schwach, schwach ist unpatriotisch.

Man kann Hillary Clinton mögen oder auch nicht. Ich tue es nicht. Doch im Angesicht dieses Irrsinns, dieser offenen Verhöhnung der Demokratie, waren die Optionen eben nicht Pest & Cholera, sondern Pest und ein blauer Fleck. Die USA haben sich voller Begeisterung für die Pest enschieden. Haben sie den Verstand verloren? Nein, sie haben sich bewusst enschlossen ihn zu ignorieren. Mit wehenden Fahnen und patriotischen Grüßen aus Schilda. Ein Hauch von Endzeit weht über den Atlantik.

erschüttert,
AY