Ein Weihnachtsspaziergang

Die Weihnachtszeit im allgemeinen, die Woche zwischen Heiligabend und Silvester im speziellen, ist eine Zeit der Zäsur. Ob man Weihnachten nun als tief religiös empfundenes Fest oder als Non-Stop-Party betrachtet, diese Zeit lässt kaum jemanden kalt. Niemand entkommt den Erinnerungen an vergangene Feste und mehr oder weniger glückliche Kindertage und niemand entgeht dem innerlichen Bilanzieren des endenden Jahres – so willkürlich menschlicher Kalenderfirlefanz auch sein mag, wir sind darauf geprägt und ein Jahr ist eines von gar nicht so vielen Kapiteln unseres Lebens.

Früher bin ich oft stundenlang alleine durch Wien spaziert, manchmal quer durch die halbe Stadt, um den Kopf freizubekommen und Gedanken zu sortieren. Inzwischen finde ich selten Gelegenheit dazu, der Bedarf ist aber nicht kleiner geworden. Heute, an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag war es notwendig und ich nahm mir etwas Zeit für ein Solo durch den ersten Bezirk. Spazieren ist vielleicht das falsche Wort, tatsächlich bin ich in diesem Modus eher schnell unterwegs, mein Telefon behauptet ich hätte etwa 9000 Schritte in knapp über einer Stunde zurückgelegt. Absurde Technik, kein Mensch hätte sich früher für soetwas interessiert.

Wie ich so durch die weihnachtlich erleuchtete Innenstadt marschiere, Elgars Anmut in den Ohren, über Alles und Nichts sinnierend, und in die zahllosen Gesichter mit ihren ebensovielen Geschichten sehe, kommt mir ein gleichzeitig beklemmender wie seltsam beruhigender Gedanke:

Wir alle sind lebenslänglich auf der Suche nach Resonanz, nach Menschen mit denen wir klicken, nach Seelen mit denen wir schwingen. Wir alle wollen uns verstanden fühlen und gewissermaßen erkannt, sei es in Freundschaften, Liebesbeziehungen, selbst in Arbeitsgemeinschaften. Für viele Menschen funktioniert das auch weitgehend. Für andere kaum.
Was, wenn es für manche von uns ganz grundsätzlich nicht funktioniert? Ich behaupte nicht dass die äußeren Umstände und sozialen Bedingungen irrelevant wären, das sind sie niemals. Und dennoch: ist es denkbar, dass manche Menschen einsam geboren wurden? Mit einer seltsam ungreifbaren, namenlosen Inkompatibilität zur Mehrheit, einer Art von Gefühlstiefe und meinetwegen Melancholie, die sich letztlich gar nicht in Worte fassen lässt und nur bedingten Anschluß an andere erlaubt; Verwirrung und Irritation erzeugt?

Reden wir uns Nähe, Vertrautheit und Verstandenwerden nur ein, um die Illusion von Seelenfrieden zu erlangen? Tauschen wir unsere Menschen ein Leben lang aus, auf der verzweifelten Suche nach etwas das wir im Innersten gar nicht erlangen können, ganz egal mit wem an unserer Seite, weil es uns selbst nicht gegeben ist? Vielleicht im Gegenzug für bestimmte andere Empfindungen und Erkenntnisse, die viele andere nicht in vergleichbarer Intensität erleben dürfen? Weil das nur in innerer Einsamkeit möglich ist?

Das Gedankenspiel ist vielleicht resignativ, vielleicht auch einfach nur wehleidig. Gleichzeitig empfinde ich es aber auch auf seltsame Weise (die Englische Sprache hält dafür das schöne Wort „eerie“ bereit) als befriedend und befriedigend. Manches Ziel mag tatsächlich nicht erreichbar sein – und diese Erkenntnis kann Raum schaffen für Unge- und Unerhörtes.

Euch allen ein frohes Fest und helle Gedanken,
AY